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Studie „Ganzheitliche Ökologische Bilanzierung von Verkehrssystemen“ – eine kritische Replik

Cover der Studie

Laut der von der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung bei Dr. Klaus Rademacher in Auftrag gegebenen Studie „Ganzheitliche Ökologsche Bilanzierung von Verkehrssystemen“ wäre die Behauptung „Züge sind besser für die Umwelt und vor allem für das Klima“ ein zeitgemäßer „Spinat-Irrtum“, falsche Angaben wie der Eisenwert von Spinat, der über Jahre hinweg wiederholt wurde. Klingt interessant – was ist da dran?

Kern dieser unkonventionellen Aussage ist Rademachers Beobachtung, dass Klimaeffekte aus der Herstellung von Fahrzeugen und der Infrastrukturbedarf jedes Verkehrsträgers bei Klimaeffekt-Vergleichen in der Regel nicht berücksichtigt werden sowie seine Annahme, dass das Flugzeug, wenn dies berücksichtigt wird, das klimafreundlichste Verkehrsmittel sein könnte (es sei denn, man kann ein vollbesetztes Auto benutzen).

Seine Beobachtung ist teilweise richtig, denn die meisten Vergleiche gehen nicht über den Vergleich der Well-to-Wheel-Emissionen hinaus. Lediglich beim Vergleich von batterieelektrischen Fahrzeugen (BEV) mit Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor (IEC) wird seit kurzem auch auf den Produktionsaufwand der Fahrzeuge geschaut. Das macht wiederum Vergleiche von BEVs mit Flugzeugen oder Zügen schwierig.

Zum Infrastrukturaufwand gäbe es leider keine Daten – doch gibt es. Einfach mal „Ökologische Bewertung von Verkehrsarten“ googeln.

Doch das ist nur teilweise richtig, denn die Studie suggeriert, dass es keine Daten gibt. Rademacher hat laut Quellenvverzeichnis zwar einige Veröffentlichungen des Umweltbundesamtes (UBA) studiert, aber offensichtlich nicht die richtigen gefunden. Ein detaillierter Vergleich der verschiedenen Verkehrsträger mit allen Auswirkungen, einschließlich des Herstellungsaufwands und der Umweltauswirkungen der Infrastruktur, ist hier verfügbar.

Obwohl einige der UBA-Daten umstritten sind (z.B. die Aufteilung der Infrastrukturkosten auf die verschiedenen Straßenverkehrsarten nach benötigter Fläche statt nach Fahrgastzahlen), könne sie zumindest helfen, das Problem beim Vergleich von BEVs mit Flugzeugen oder Zügen zu lösen. Obwohl die UBA-Studie nicht speziell auf BEVs einging, kann man jedoch sehen, dass die Klimaauswirkungen der Fahrzeugherstellung bei Flugzeugen und Zügen so unbedeutend sind, dass man sie bei einem Vergleich der Klimaauswirkungen notfalls auch ignorieren kann, ohne das Ergebnis eines Vergleichs mit BEVs zu verfälschen. Immerhin vergleicht man dabei Verkehrsmittel, die rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr und im Schnitt rund 20 Jahre (Flugzeuge) oder sogar 40-50 Jahre (Züge) genutzt werden mit Autos, die 96% ihrer ca. 12-jährigen Lebensdauer geparkt sind, durchschnittlich 1,5 Passagiere pro Fahrzeug befördern, was eine katastrophale effektive Auslastung von 1,25% ergibt. Rademacher errechnet 33 g CO2 pro Personenkilometer, um den Produktionsaufwand eines Autos zu decken – vermutlich zu Recht, wie auch andere Berechnungen zeigen.

Flugzeuge und Autos haben einen ähnlichen Produktionsaufwand pro Sitzplatz. Berücksichtigt man die 64-fach höhere Auslastung und die 1,7-fach längere Lebensdauer, kommt man vielleicht auf weniger als 0,3g CO2 pro Passagier-km. Züge sind zwar wesentlich schwerer als Flugzeuge, halten aber auch wesentlich länger, was den Gewichtsunterschied aufwiegt. Ihr Produktionsaufwand pro Passagierkilometer wird höher sein, solange die Auslastung niedriger ist. Langstreckenzüge in Europa sind zu 40-70 % ausgelastet, so dass man einen etwas höheren CO2-Produktionsaufwand pro Passagierkilometer in Betracht ziehen muss, sicher aber nicht mehr als 0,5 g CO2 pro Passagierkilometer.

Dass die Daten des UBA nicht bekannt oder zumindest nicht diskutiert werden, eröffnet in der Studie den Raum für unzureichend begründete oder schlichtweg falsche Annahmen. Ein Beispiel: Rademacher geht davon aus, dass der Infrastrukturaufwand für Schienen höher sein muss als für Straßen. Der Grund: Züge bräuchten mehr Tunnel und die Transportkapazität des Straßensystems sei viel höher als die des Schienensystems. In der Argumentation scheint nicht bedacht, dass selbst Hochgeschwindigkeitsstrecken nur einen Tunnel benötigen, während für Autobahnen in der Regel zwei erforderlich sind, und dasselbe gilt für das für Brücken erforderliche Betonvolumen. Das dürfte die geringere Fähigkeit von Hochgeschwindigkeitsstrecken, sich an die Landschaft anzupassen, aufwiegen. Betrachtet man die Transportkapazität, so kann man natürlich nicht die Kapazität der Gesamt-Systeme vergleichen, wenn man die Umweltkosten pro Strecken-Kilometer berechnet. Dann muss man die Transportkapazität pro km vergleichen – also eine zweispurige Autobahn pro Richtung mit einer zweispurigen Hochgeschwindigkeitsstrecke. Eine stark befahrene zweispurige Autobahn wie die A 10 nördlich von Potsdam kann bis zu 40.000 Fahrzeuge pro Tag aufnehmen. Bei 1,5 Fahrgästen (EU-Durchschnitt) entspricht dies 60.000 beförderten Personen pro Tag (beide Richtungen). Diese Fahrgastzahl erfordert 132 ICE-Züge pro Tag, die mit einer durchschnittlichen Auslastung von 55% (bei DB Fernverkehr) fahren, 66 pro Richtung. Verteilt auf einen Zeitraum von 18 Stunden sind das weniger als 4 Züge pro Stunde, also weit unter der maximalen Kapazität.

Radiative Forcing – leider falsch verstanden.

Ein weitere Grund für Rademachers Ergebnisse: Obgleich der Autor an anderer Stelle betont, er wolle sich ein vollständiges Bild verschaffen, lässt er bei der Quantifizierung der Kliameffekte alle anderen Treibhausgase und deren spezifische Strahlungswirkung außen vor.

Die Strahlungswirkung von Nicht-CO2-Emissionen wird lediglich in einer Fußnote erwähnt, die dokumentiert, dass Rademacher der wissenschaftlichen Diskussion nicht ganz folgen konnte. Dieses Missverständnis führt in der Folge zu weiteren falschen Annahmen.

Die Fußnote führt zu einem Artikel über Robert Sausen, der aktuell darauf hinweist, dass die Anwendung eines allgemeinen Strahlungsantriebsfaktors keine Lenkungswirkung hat, der sicherlich aber nicht – wie Rademacher es versteht – dazu rät, den Strahlungsantrieb von Nicht-CO2-Emissionen künftig zu ignorieren, im Gegenteil. Es ging bei Sasuen um die Berechnung der Emissionen einzelner Flüge, z.B. im Emissionshandel. Bei allgemeinen Aussagen im Vergleich von Verkehrsmitteln gibt es aber keine Alternative zur Anwendung eines einzigen Strahlungsfaktors. So müssen – solange man die Entfernung nicht kennt – die CO2-Emissionen im Flugverkehr mit 3,0 multipliziert werden, um den aktuellen Treibhauseffekt zu erhalten, wie in einer Studie von Lee et al. beschrieben wird, die Rademacher ebenfalls zitiert hat, offenbar jedoch ohne diese zentrale Aussage zur Kenntnis zu nehmen, die bereits unübersehbar in der Zusammenfassung steht.

Es überrascht insofern, dass diese Studie unter Mitwirkung des Instituts für Mobilität an der Universität St. Gallen entstanden ist. Von einem solchen „Stempel“ würde man sich doch erwarten, dass damit eine Publikation auf dem Stand der Wissenschaft sichergestellt ist.

Nützlich an der Studie ist die Systematik zur Erfasung von Infrastrukturaufwänden – wenn man diese denn mit den bereits verfügbaren Daten und nicht nur mit Annahmen füllen würde.

Es gibt tatsächlich Fälle, in denen der Zug nicht das ökologischte Verkehrsmittel ist.

Es ist tatsächlich richtig, dass eine Fahrt mit einem batteriebetriebenen Elektroauto besser für die Umwelt sein kann als die Fahrt mit dem Zug, wenn das Auto mit fünf Personen besetzt ist und mit Ökostrom geladen wurde und wenn die Zugverbindung dagegen Diesel benötigt oder mit Bahnstrom betrieben wird der zu einem großen Teil aus Kohle- oder Gaskraftwerken stammt. Das sind allerdings sehr viele Wenns.

Bei Anwendung eines Strahlungsfaktors wird ein Flugzeug auf der Strecke Berlin Paris, die Rademacher in einem Podcast Interview als Beispiel für eine Strecke nannte, auf der er den Flieger nehmen würde, niemals besser für die Umwelt sein, insbesondere nicht für das Klima. Dabei ist auch egal, ob ein die Strahlungswirkung von Nicht-CO2 Treibhauswgasen nach GWP100 Methode auf 100 Jahre gestreckt wird oder die aktuelle Strahlungswirkung nach GWP* Methode bemessen wird. Selbst mit der hypothetischen Annahme eines Flugbetriebs mit 100% Sustainable Aviation Fuels wird man nicht dahin kommen.

Und während Züge und Autos mit Dieselverbrennung auf dem Weg sind, durch batterieelektrische oder wasserstoffbetriebene Versionen ersetzt zu werden, und der Strommix für Züge immer mehr erneuerbare Energien enthält, sind all diese Entwicklungen für Flugzeuge noch in weiter Ferne.

Für das nächste Interview bitte das Beispiel Brindisi-Korfu nehmen. Da könnte man die Existenz einer Fähre ja hypothetisch ignorieren und dann ist der Flieger tatsächlich knapp etwas umweltfreundlicher, als mit Bahn und Bus einmal um die Adria zu fahren.

Ein Gedanke zu „Studie „Ganzheitliche Ökologische Bilanzierung von Verkehrssystemen“ – eine kritische Replik“

  1. Auf S.22/23 sagt die Studie zu den allgemeinen CO2 Emissionen von Eisenbahninfrastruktur:
    „Eine seriöse, allgemeingültige Aussage ist derzeit nicht möglich.“

    Alles, was die Studie handfest behauptet, ist, dass die Emissionen der Infrastruktur mitbetrachtet werden müssen. Vollkommen richtig, aber das wurden sie auch schon vor der Studie im BVWP 2030, der 2016 erstellt wurde. Bsp.: https://www.bvwp-projekte.de/schiene_2018/2-041-V02/2-041-V02.html

    Auffällig ist auch, dass die Studie sich auf keine anderen bisherigen Studien zu dem Thema bezieht, wie es in der Wissenschaft üblich ist, z.B. https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/ab442f/meta

    Zudem Radermacher in Artikeln zusammenhangslos Bahntunnel mit Autobahnen(ohne Tunnel) vergleicht und mit dem Argument „Züge haben höhere Beschleunigungsenergie als Flugzeuge“ hausiert. (und nicht erwähnt, dass diese rekuperiert werden kann)
    https://www.aerotelegraph.com/warum-das-flugzeug-nicht-zwingend-umweltschaedlicher-ist

    Seine Darstellungen hinterlassen den Eindruck, die Bahn wäre mehr Umweltsünder als Flugzeug oder Auto, ohne dass er das je explizit sagt. Letztendlich streut er sehr laut Zweifel, hauptberuflich.

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